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...Wolkenuntergrenze gegen SW-Spitze Irland vermutlich absinkend auf 50 bis 100 m.

"Aufwachen, Bruno!" Der Unteroffizier vom Dienst (UvD) der Wettererkundungsstaffel 2 des Oberbefehlshabers der Luftwaffe (Wekusta 2 Ob.d.L.) schüttelte leicht Bruno Noths Schulter, der jetzt die Augen öffnete und den UvD verschlafen anblinzelte: "In Ordnung, danke Hans."

4.45 Uhr auf dem Flugplatz Nantes Chateau-Bougnon. Bruno Noth sah zum Wandkalender hinüber: es war Freitag, der 23. Juli 1943. Der 32 Jahre alte Meteorologe Bruno Noth im Rang eines Regierungsrats schwang seine Beine aus dem Bett. Während der folgenden Nassrasur ging ihm die Situation hier in Nantes durch den Kopf. Er realisierte wieder einmal das ausgesprochen gute Verhältnis zwischen den fliegenden Besatzungen und dem Bodenpersonal. Die Umstände hier waren völlig unterschiedlich zu den Bedingungen, wie sie sonst auf den Kriegsschauplätzen rund um Deutschland waren. Hier mehr oder weniger Frieden, Luftkämpfe nur als Ausnahme und dort Tod, Blut und Kampf Mann gegen Mann. Er genoss die Rasur mit der scharfen Klinge, der feinen Seife und dem heißen Wasser. Beides war bereits eine Rarität nach fast vier Jahren Krieg und der verlorenen Schlacht in Stalingrad. Er sah die Situation klar. Der Krieg war für ihn bereits verloren.

Er kam aus einem guten Elternhaus und hatte in der Jugend eine gute Erziehung genossen, besuchte anschließend die Universität und wurde Meteorologe, mit einer sicheren Anstellung im deutschen Wetterdienst in Offenbach von 1937 bis 1942. Seitdem tat er Dienst in der Wekusta 2 hier in Nantes. Jetzt war er Mitglied einer JU 88 D-1 Besatzung, die Wettererkundung westlich der Biskaya und nordwestlich von Irland flog, wobei sie so nebenbei natürlich nach alliierten Geleitzügen sahen, deren Standorte man dann schnellstens an die deutschen U-Boote weitergab. Aber normalerweise gab es keine Feindkontakte und so waren die Chancen jedesmal recht groß, wieder heil nach Hause, nach Nantes, zu kommen. In Nürnberg, seiner Geburtsstadt, wartete seine Verlobte auf ihn und er hoffte sehr, diese Zeit mit etwas Glück zu überleben und nach diesem Scheißkrieg ein friedliches Leben in Offenbach führen zu können.

Eine halbe Stunde später traf er die anderen Besatzungsmitglieder - den 22 Jahre alten Pilot Hans Auschner, den 22 Jahre alten Bordmechaniker und Schütze Johannes Kuschidlo und den gerade 19 Jahre alten Funker Gerhard Dümmler - in der Kantine des Fliegerhorstes. Sie begannen ihr luxuriöses Frühstück. Natürlich bot der Koch gekochte Eier, Spiegeleier mit Speck, Schinken, Wurst und verschiedene Sorten Marmelade an. Selbstverständlich war der heiße Kaffee. "...und an der Ostfront verhungern und erfrieren unsere Kameraden" Bruno Noth schlürfte leise seine zweite Tasse starken Kaffee. Aber das hier war eben die Situation in Frankreich; man war halt eine besonders vornehme Einheit, und dies pflegte man auch so gut es eben ging.

6.30 Uhr Ortszeit am gleichen Tag - Allihies in Irland. Der 22 Jahre alte Michael Murphy begann ebenfalls sein - allerdings spartanisches - Frühstück. Seine Eltern waren Farmer und eines Tages würde er den kleinen Hof übernehmen. Jetzt tat er Dienst als junger Soldat der irischen Armee. Er war Teil der Besatzung eines Beobachtungspostens auf dem Gipfel des Ballinacarriga Hills. Er residierte in einem kleinen Steinhaus dort zusammen mit zwei Kameraden und wartete auf die deutschen Besucher, die jeden Tag regelmäßig mit ihrem Flugzeug dort vorbeiflogen. Die Deutschen flogen dicht unter der Küste vorbei mit Kurs auf den Leuchtturm "The Bull".

Es war allgemein bekannt, daß sie oft dem Leuchtturmwärter durch das Glas der Cockpits hindurch winkten oder mit den Tragflächen der schweren Maschine wackelten. Einige Könner dippten sogar die Nase der JU 88 nur einige Meter über der Meeresoberfläche. Über alle diese Dinge informierten Murphy und seine Kameraden das irische Verteidigungsministerium. Michael trank einen Schluck des dünnen Tees und biß in sein Marmeladebrot. Seine Mutter bereitet ihm zwei Butterbrote, die sie in Zeitungspapier einwickelte und ihm dann mitgab: "Bye, bye Michael, gute Fahrt."

Er ging durch das hölzerne Hoftor und bestieg sein Fahrrad. "Mistwetter" ging ihm durch den Kopf während er in Richtung des Ballinacarriga Hills fuhr, wo seine Kameraden bereits auf ihn warteten. Das Wetter war wirklich alles andere als sommerlich: geschlossene Wolkendecke, ein bißchen Nieselregen, der Dunst ging in Nebel über und dazu nur ungemütliche 12° Celsius; und das mitten im Sommer am 23. Juli! Eine halbe Stunde später erreichte er den Fuß der zur Küste hin ansteigenden Landzunge und begann den Aufstieg hangaufwärts in Marschrichtung auf das Beobachtungshäuschen. Der Weg war wirklich nicht leicht. Das Gras war sehr feucht und das Leder seiner Militärstiefel begann, nass und klamm zu werden. Je höher er stieg, desto schlechter wurde die Sicht und in rund 100 Meter Höhe war er von so dichtem Nebel umgeben, daß er die Hand vor Augen nicht mehr sah. Trotzdem fand er natürlich den Beobachtungsposten und seine Kameraden. Aber ein bisschen froh war er schon, als er die beiden anderen mit einem "Good morning, boys!" begrüßen konnte. Er betrat den Raum, schloss die Tür: "Was besonderes?" Der Corporal Harrington schüttelte den Kopf und wandte sich zum Fenster: "Nee, nix passiert." Aber sehen konnte er nichts.
Der Nebel war dick wie Watte. Michael zog seinen schweren Mantel aus: "Irgendetwas von unseren fliegenden Freunden aus Deutschland?" "Nee, bis jetzt sind sie noch nicht gekommen. Vielleicht haben sie Angst bei diesem Nebel zu fliegen. Bei dem Wetter gehen ja selbst die Vögel zu Fuß." Die drei lachten sich halbtot und setzten sich auf die unbequemen Holzstühle. Einen Moment später saßen Michael Murphy, Peter Holland und Corporal Harrington rund um ihren Tisch und erzählten von den wenigen Vorkommnissen des Vortages.

Freitag, 9. März 1984 – 9.15 Uhr – Flughafen Düsseldorf
Die Lufthansa Boeing 737 hebt von der Startbahn 05 ab mit Kurs Nordost. Das Fahrwerk wird eingefahren und kurze Zeit später die Klappen. Die Maschine legt sich in eine Linkskurve mit Kurs auf das Funkfeuer Rekken und später in Richtung Spijkerborg. An Bord zwischen den anderen Passagieren sitze ich, ein damals 45 Jahre alter Mann aus der Klingenstadt Solingen im Bergischen Land, 20 km östlich der Landeshauptstadt Düsseldorf gelegen. Aufgelockerte Bewölkung verdeckt im Wesentlichen die Sonne, es ist jedoch trocken. Die Maschine steigt weiter mit jetzt westlichem Kurs in Richtung London.
Ich sehe aus dem Fenster und genieße die außergewöhnliche Situation des Flugs mit einer großen Maschine. In ungefähr 1500 m Höhe wird die Wolkendecke geschlossen und es gibt nichts mehr zu sehen außer Wolken. Eine freundliche, gut aussehende Stewardess offeriert: "Möchten Sie eine Tasse Kaffee?" "Natürlich, gerne!" es ist unmöglich, nicht auch zu lächeln. "Eine Klasse Frau. Sieht verdammt gut aus in ihrer Uniform" ich wende den Kopf zum Fenster und kann mich an den Wolken gar nicht sattsehen. Bei einem Schluck Kaffee gehen meine Gedanken zurück: Sommer 1947, der Krieg war seit zwei Jahren zu Ende und das Leben in Deutschland begann, wenigstens wieder ein bisschen normal zu werden.
Natürlich waren die Spuren der Kämpfe noch überall zu sehen. Große Mengen von Munition und Minen fand man noch immer in den Wäldern.
Und die Städte lagen nach wie vor noch zum großen Teil in Schutt und Asche.
Der Vater setzte den gerade fünf Jahre alten Jungen auf den Kindersattel des Herrenrades. Der Sattel war auf dem Oberrohr vor dem Lenker befestigt. Sie fuhren zum 18 km entfernten Rhein. Dort gab es eine kleine Sensation zu sehen. In der Mitte der Fahrrinne lag ein Frachtkahn auf Grund und blockierte so diese gerade jetzt äußerst wichtige Wasserstraße. Dicht neben dem Kahn lag jedoch ein anderes Schiff, das ohne Unterlass einen dicken Strom Wasser aus dem gesunkenen Kahn pumpte und so bat der Junge seinen Vater, doch etwas abzuwarten; er wollte gerne das Auftauchen des Schiffs abwarten. Dies war jedoch nicht möglich; die Antwort des Vaters, daß dies wohl noch einige Tage in Anspruch nehmen würde, war für den Jungen völlig unvorstellbar. Also fuhr man ein Stück weiter den großen Strom entlang. Ein unglaubliches Erlebnis für einen kleinen Jungen in der Nachkriegszeit - eingebrannt als nie vergessenes Bild ins Gedächtnis des Jungen.
Später im gleichen Jahr. Der erste Besuch des Jungen am Kölner Dom. Natürlich wieder mit seinem Vater. Die große stählerne Eisenbahnbrücke (die Hohenzollernbrücke) über den Rhein lag an mehreren Stellen gebrochen quer im Strom. Rund um den Dom Berge von Schutt und Asche. Der Dom selbst beschädigt und mitten in diesem Chaos ein einziger Mann mit einem dröhnenden Presslufthammer. Er bearbeitete Steine, die man zum Bau von Häusern wieder benutzen konnte.

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Nach einem zweistündigen Spaziergang fragte der Vater den kleinen Jungen am Grashang des Rheinufers: "Hast Du Hunger?" Natürlich hatte das Kind Hunger, welche Frage in dieser Zeit! Und dann zog der Vater aus seiner Manteltasche ein Butterbrot aus zwei übereinandergelegten Scheiben Graubrot, bestrichen mit Margarine und belegt mit einem gebackenen Ei, das zwischen den Brotscheiben lag. Die Mutter hatte dies liebevoll in aller Stille zu Hause bereitet. In dieser Zeit eine unglaubliche Kostbarkeit! Der Junge war völlig überrascht und ganz außer sich. So etwas Leckeres hatte er seit Monaten nicht mehr gesehen, und dann auch noch das Erlebnis dieser Reise hier nach Köln an den Rhein. Der Vater hatte angeblich überhaupt keinen Appetit und nahm sich nur einen kleinen Happen. - Ein weiteres Bild eingebrannt in die Erinnerung.
Und jetzt sitze ich hier in der Lufthansa B 737 im völlig normalen Luxus, schlürfe einen heissen Kaffee und schaue aus dem Fenster auf die Wolken! Die Maschine beginnt bereits zu sinken und die Obergrenze der Wolkenschicht kommt näher und näher. Die Boeing geht nach dem Passieren des Funkfeuers "Ockham" in eine verhältnismäßig steile Rechtskurve beim Einflug auf den Gleitpfad. Wieder schaue ich aus dem Fenster. Nach Beendigung der 90°-Kurve sehe ich drei andere Airliner aufgereiht wie an einer Perlenschnur der eigenen Maschine folgen. Ein eindrucksvolles Bild. Die B 737 sinkt weiter durch die geschlossene Wolkendecke. Ich schließe die Augen und wieder beginnt ein Farbfilm in meinem Gehirn abzulaufen - ganz eigenartig.
Noch frühere Szenen. Ich sitze als kleiner Junge auf dem Schoß einer Mitbewohnerin im Keller unseres Hauses. Von weit her dringen die Explosionen der Bombennacht zu uns herein. Alle haben Angst, selbst ich spüre das. Noch als ich bereits fast vierzig Jahre alt war, lange nach dem Tod meiner Eltern, lebte eine der Frauen aus dem Keller als Mieterin in meinem Haus, geachtet bis zu ihrem Tod. Mit dem Umbau und der Modernisierung ihrer Wohnung auf den heutigen Standard habe ich bis zu ihrem Lebensende gewartet. Die alte Dame wollte unter keinen Umständen ihre einfache 2-Zimmerwohnung aus der Kriegszeit mit WC im Hausflur gegen ein kleines, modernes Appartement mit Bad und Toilette eintauschen.

Meine Mutter läuft mit mir auf dem Arm über den Bürgersteig der Hauptstraße in Richtung des Bunkers. Es ist tiefe Nacht und der Himmel ist dunkel, aber im Westen ist er hellrot - heute unvorstellbar. Düsseldorf brennt lichterloh. Eine nicht endende Kette von Feuerwehrfahrzeugen fährt von Solingen kommend in Richtung Hilden und dann wohl weiter nach Düsseldorf an uns vorbei. Die blauen Lampen der Fahrzeuge sehe ich heute genau so deutlich vor mir, wie den glutroten Himmel über Düsseldorf.
Ein Bild, das ich selbst dann manchmal sehe, wenn ich hin und wieder samstags mit meiner Frau in einem Restaurant an der Königsallee luxuriös frühstücke.
Der Propagandaminister des Nazi-Reiches, Dr. Joseph Goebbels, fragte in einer öffentlichen, vom Großdeutschen Rundfunk aus dem Sportpalast in Berlin in alle Welt übertragenen Rede: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Und die Idioten im Saal brüllten begeistert ihre Zustimmung. Dazu ließen sich die Engländer dann auch nicht zwei Mal einladen. Sie kamen in fast jeder Nacht. Auch in Barmen warfen sie 1000 kg schwere Luftminen ab, die angeblich noch in Solingen die Fensterscheiben bersten ließen. Sie ließen Feuer vom Himmel regnen durch den Einsatz von Phosphor-Brandschüttkästen und mein Vater erzählte mir später, dass der Asphalt auf den Straßen dort von der Hitze der Brände wieder flüssig wurde und die Menschen brennend in die Wupper sprangen. Elberfeld überlebte diese Brandnacht verhältnismäßig gut, weil es so gut wie keine Flakabwehr mehr gab. Es war nämlich geplant, dass die Spitze des Bomberstroms den Stadtteil Barmen angreifen sollte, während die späteren Flugzeuge ihre Bomben ganz automatisch über Elberfeld abladen würden und so ganz Wuppertal dem Erdboden gleichmachen sollten.
Bei starker Flugabwehr nämlich, würden die nachfolgenden Besatzungen nicht mehr unbedingt ins Zentrum der explodierenden Flakgranaten fliegen, sondern weiter entfernt vor ihrem eigentlichen Ziel ihre Fracht abladen. Und diesen Effekt machten sich die englischen Strategen zunutze, indem sie dann auch gleich Elberfeld vernichten würden, sozusagen als Zugabe. Das Ganze funktionierte nur deshalb nicht so richtig, weil es eben keine Flugabwehr mehr gab und somit fast alle Maschinen des Pulks ihre Bomben problemlos ins Ziel brachten – direkt nach Barmen. Aber das hat mein Vater nicht mehr erfahren.
Ich habe mich oft gefragt, ob meine Bilder aus dieser frühen Zeit nicht doch nur Phantasie seien, weil ich damals erst ungefähr drei Jahre alt war. Aber ein Psychologe bestätigte mir einmal bei einer zufälligen Gelegenheit, dass Kinder schon in diesem Alter derartige Erinnerungen aufnehmen. Eine einfältige Frage schießt mir jetzt im Flugzeug durch den Kopf: "...die Engländer heute, Menschen wie Du und ich?" Der Film ist zu Ende; er verschwindet wieder irgendwo in meinem Kopf. Kurze Zeit später berühren die Räder der Boeing mit einem leichten Stoß die Landebahn in Heathrow.
"Mein allererster Besuch in England", ich öffne den Verschluss meines Anschnallgurtes. Seit Beginn des Englischunterrichts in meiner Schulzeit hatte ich davon geträumt, einmal in England zu sein. Und jetzt endlich ist es soweit - nach fast 30 Jahren und zu welchem Anlass!

Draußen auf dem Vorfeld begannen nacheinander, die schweren Flugzeugmotoren zu dröhnen. Die Flugzeugwarte starteten die Triebwerke und ließen sie unter Last mit mäßiger Drehzahl warmlaufen. Ein Warmlaufen in Leerlaufdrehzahl hätte nur die Zündkerzen verrußen lassen und somit zu Störungen in der Verbrennung geführt. Sobald die Betriebstemperatur erreicht war, stellte man die Motoren wieder ab und füllte die Tanks der JU 88 D-1 Fernaufklärer wieder "bis zur Halskrause" auf. Die maximale Reichweite war somit sichergestellt. Zum einen konnten die Wetteraufklärungsmaschinen so mit Westkurs ca. 1500 km weit über die Biskaya bis auf den Atlantik hinaus und zum anderen mit Nordwestkurs an der Westküste Irlands entlang und dann noch ebenfalls mit Westkurs ein Stück auf den Nordatlantik hinaus fliegen.

Auschner, Noth, Kuschidlo und Dümmler beendeten ihr Frühstück und suchten vorsichtshalber noch einmal die Toiletten auf; während des sechsstündigen Fluges war es praktisch unmöglich, die getrunkene Flüssigkeit wieder loszuwerden – ein gar nicht zu überschätzendes Problem! Alle vier hatten soeben ihre frischgewaschenen Oberhemden bekommen.

Sie sahen schon gut aus in ihren blauen Fliegeruniformen mit weißem Hemd und Krawatte. Darüber zog man nun die Fliegerkombi und band sich das gelbe Halstuch um. Dieser dünne Schal war zwar modisch und schick, der Geschwaderkommandeur hatte dieses Kleidungsstück jedoch mit der Begründung durchgesetzt, dass man es nach einer eventuellen Notlandung benutzen sollte, um durch Winken mit diesem auffälligen Schal auf sich aufmerksam zu machen.

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Auschner blickte zufrieden in den Spiegel; er war schon ganz zufrieden mit sich und der schönen Welt. Der vor einiger Zeit aus Privatbesitz requirierte Opel Olympia brachte die Vier zu Ihrer Maschine. Es war heute die Junkers mit dem Kennzeichen D7+DK. Das Flugzeug war umgerüstet worden; das nach hinten feuernde Zwillings-Maschinengewehr in der Bodenwanne war zur Gewichtseinsparung ebenso entfernt worden, wie das nach vorne aus der Kanzel feuernde MG des Piloten; der Platz der Waffe wurde dringend für den Meteorologen benötigt. Stattdessen hatte man als Spezialität eine starr aus der Bodenwanne nach vorne feuernde Maschinenkanone "auf besonderen Wunsch" eingebaut. Es gab unter den "Jungs" einige Piloten mit "Halsschmerzen"; jene, die unbedingt das am Hals getragene Ritterkreuz durch den Abschuss einer feindlichen Maschine verdienen wollten. Und dies war praktisch nur durch eine derartige Verstärkung und Änderung der Bugbewaffnung möglich.

Der Besatzung Auschner stand zwar nicht der Sinn nach einem Luftkampf, aber mit den Gegebenheiten der Maschinen musste man sich einfach abfinden. Und so ging man nach dem Ausstieg aus dem PKW auf das Flugzeug zu. Noth sah sich um: "Mistwetter - und das mitten im Sommer". Jetzt am 23. Juli 1943 war es gerade 15° C warm, Dunst und Feuchtigkeit hingen unter einer geschlossenen, niedrigen Wolkendecke. Der Einstieg über die kleine Rohrleiter durch die enge Luke der Bodenwanne war wie üblich: nachdem sich Auschner vom einwandfreien Zustand der Maschine überzeugt und in diesem Sinne einige Worte mit dem ersten Wart gewechselt hatte, stieg er als erster ein und setzte sich möglichst bequem auf seinem angeschnallten Fallschirm in den gepanzerten und fest verankerten Stahlsitz.

Dann folgte Noth, der seinen leichten Klappsitz aus der Wandhalterung rechts löste, die einfache Rückenlehne hochstellte und jetzt mit seiner linken Schulter dicht hinter Auschners rechter Körperhälfte etwas tiefer ebenfalls in Flugrichtung saß. Der Funker Dümmler folgte und saß jetzt Rücken an Rücken mit Auschner mit Blick auf sein Funkgerät und das Leitwerk der Maschine.

Als letzter stieg der Schütze und Bordmechaniker Kuschidlo ein, dem lediglich ein breiter, links und rechts befestigter Ledergurt hinter Bruno Noth als Sitzgelegenheit zur Verfügung stand. Für alle Vier wirklich keine komfortable Angelegenheit! Es kam trotzdem niemand auf den Gedanken, sich zu beklagen. Man war ja schließlich Flieger!

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Nachdem Kuschidlo die Bodenklappe geschlossen und verriegelt hatte, schloss auch er seine Fliegerhaube an die Eigenverständigungsanlage an. Auschner schaltete die Zündung des linken Motors ein, blickte durch die Cockpitscheiben nach außen zu dem links vor ihm stehenden Wart, der mit dem Daumen der rechten Hand die Startbereitschaft signalisierte, und betätigte den elektrischen Anlasser. Das Summen des Elektromotors wurde höher und höher und nach Erreichen der erforderlichen Umdrehungen kuppelte das Schwungrad an den noch stehenden Motor ein. Rumpelnd sprang der große JUMO 211 B-Motor problemlos an. Wie üblich produzierten die ersten Zündungen eine Menge blau-schwarzen Rauchs, der jedoch schnell vom Propellerstrom verwirbelt wurden, als der Motor in die Leerlaufdrehzahl hochlief. Dieselbe Prozedur wiederholte sich für den rechten Motor. Kaum lief dieser ebenfalls im Leerlauf schaltete Kuschidlo die elektrische Anlage der Maschine ein und überprüfte alle wichtigen Funktionen. Auch die Eigenverständigung wurde jetzt eingeschaltet, so dass man sich über die Kehlkopfmikrofone und die in den Helmen eingebauten Kopfhörer unterhalten konnte.

"Na, dann wollen wir 'mal". Auschner setzte die Startklappen und schob die beiden Gashebel leicht nach vorne. Die Maschine rollte langsam auf den Beginn der Startbahn zu. Hier richtete er den Aufklärer gegen den leichten Wind aus Nordost in Richtung Nordnordost auf die Startbahn aus, hielt die Maschine an und bremste mit Vollgas kurz die Motoren ab;

ihre Leistung entsprach den Vorgaben. Wieder schob Auschner die Gashebel mit Gefühl nach vorne, löste die Bremsen, und schaukelnd setzte sich die schwere Maschine in Bewegung. Nur nicht zu schnell mit Vollgas jetzt die Startleistung setzen, der ungeheure Drehmoment der beiden Triebwerke hätte die JU 88 dann leicht aus ihrer Startrichtung nach links abdrängen können. Genau dies mußte unbedingt vermieden werden, wie im Training bei jedem Start geübt.
Schneller und schneller zog die Rollbahn unter ihnen weg; der Pilot drückte das Steuerhorn etwas nach vorne und das Spornrad der D7+DK löste sich vom Boden. Die Maschine beschleunigte jetzt merklich. Hans Auschner zog die Steuersäule etwas zu sich und die JU 88 hob endgültig vom Boden ab. Dröhnend begann sie, der tiefhängenden Wolkendecke entgegen zu steigen. Bruno Noth blickte auf die Uhr in der Steuersäule und trug die Startzeit in seine Unterlagen ein.
Der diensthabende Flugleiter in Nantes blickte ebenfalls auf seine Uhr und verglich die Zeit mit Dümmlers Funkmeldung, mit der dieser soeben die Startzeit bestätigte.

Es war 5.58 Uhr deutsche Sommerzeit. Und was keiner von ihnen allen ahnte, es blickte noch jemand auf seine Wanduhr: Tom Butcher, Mitglied der Spezialabteilung für Entschlüsselung im englischen Kriegsministerium in London!

"Na John," er wandte sich um zu seinem Kollegen, der am Schreibtisch saß und soeben die dechiffrierte Meldung las, "da sind unsere Jungs aus Nantes wohl 'mal wieder auf dem Weg. Wohin geht's denn heute, hinaus auf die Biskaya, vor die irische Küste oder gar beides?"
John Beam sah von seinem Schreibtisch auf: "Wenn die wüssten, daß wir schon seit langem ihre ENIGMA im Sack haben und praktisch fast jeden verschlüsselten Funkspruch mitlesen können; ich glaube dieses Verbrecherpack in Berlin könnte keine Nacht mehr ruhig schlafen. Ist aber doch gar nicht so schlecht, daß sie sich völlig sicher fühlen. So nutzen wir nicht nur die Wettermeldungen der Deutschen Aufklärer, wir wissen auch, wo sich die deutschen U-Boote aufhalten und können unsere Geleitzüge nicht nur prima umleiten, sondern auch noch diese Eisensärge jagen. Wie gut, sie wissen nicht, wie klar uns fast immer klar ist, was bei ihnen vorgeht. Bin 'mal gespannt, wie lange es die Hunnen überhaupt noch durchhalten.
Inzwischen sind wir ja ganz gut im Rennen."Er beugte sich wieder im Schein der Schreibtischlampe über seine Papiere, während in einem Nebenraum der diensthabende Funker seine Kopfhörer etwas stärker an seine Ohren drückte; die eintreffenden Signale der D7+DK waren heute doch recht schwach.

Auschner fuhr das Fahrwerk ein und setzte die Motoren auf Steigleistung. Die Maschine beschleunigte jetzt noch stärker und stieg gleichmäßig mit ungefähr 2,50 m pro Sekunde. Als er kurz darauf die Startklappen auf 5° zurücknahm, sackte das Flugzeug leicht einige Meter zurück. "Das hat er immer noch nicht gelernt" Bruno Noth blickte kurz von seinem Barographen hoch. Die alten Hasen unter den Piloten zogen bei Einfahren der Startklappen kurz das Steuerhorn an und umgingen so elegant das leichte Durchsacken der Maschine. "Na ja, der Junge wird wohl auch noch dahinter kommen. Was erwartest Du denn von einem 21jährigen Kerlchen?" Mit diesen Gedanken nahm sich der Meteorologe wieder seinen Barographen vor. Die ersten Wolkenfetzen jagten vorbei und schon war man vom Grau der Wolkendecke umfangen.
Auschner fuhr die Klappen jetzt völlig ein und Maschine stieg mit 230 km/h in einer weiten Linkskurve der Unterseite der Wolken entgegen. Kurz darauf lag der gewünschte Kurs West an.

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Nach der Zwischenlandung in London bin ich gegen 11.00 Uhr Ortszeit auf dem Weg nach Irland. Diesmal sitzt er allerdings in einer B 737 der Air Lingus, der staatlichen irischen Fluggesellschaft. Ich bin auf dem Weg nach Shannon - jenem legendärem Flughafen der 50er und 60er Jahre, der ein Absprungflughafen von Europa nach Amerika war für alle die ebenfalls legendären Airliner jener Zeit: der DC 7 der KLM und SAS, der Lufthansa Super Constellation und der seltenen BOAC Boeing Stratocruiser. Sie alle sah ich als 13-jähriger Junge am Flughafen Düsseldorf-Lohausen auf dem Vorfeld stehen und hoch über meinem Elternhaus in Solingen dröhnend in Richtung Osten ziehen - erst viel später wurde mir klar, daß sie auf dem Weg zum Funkfeuer Germinghausen waren und dann weiter in Richtung Südamerika über Frankfurt oder Nordamerika über Hamburg.

Hier in Shannon nun wurde dann zum letzten Mal aufgetankt bevor es ohne Zwischenaufenthalt weiter über den Atlantik nach Gander auf Neufundland ging. Vielleicht landete man allerdings auch noch einmal in Reykjavik auf Island. Das hing dann von den Wetterbedingungen ab. Wie dem auch sei, in Shannon wurde noch einmal von den damals gut betuchten Fluggästen nach Herzenslust eingekauft, denn niemand sonst konnte sich einen Flug in die USA und den buchstäblich weltberühmten Duty Free Shop in Shannon leisten. Und diese Einkaufsmöglichkeit gibt es im gleichen Maß mit dem vielfältigen Angebot auch noch heute!

Nach der Landung und dem Empfang meines Reisegepäcks gehe ich durch die Zollkontrolle in die Ankunftshalle des Flughafens und halte Ausschau. Ein Mann sitzt in einem der Sessel und liest Zeitung. Vermutlich ist er mein Ansprechpartner, den ich dann auch zugehe und anspreche. Der Ire lässt die Zeitung sinken; er ist tatsächlich Greg Dooley, mein Fahrer und guter Geist für die nächsten beiden Tage.

Nach dem Einchecken im Hotel in der Nähe des Flughafens holt mich Greg Dooley ab und in einem typisch irischen Landgasthaus - der Dirty Nelly - in der Nähe von Limerick gibt es für den Gast aus Deutschland ein Abendessen, das dieser nie vergessen wird: zum ersten Mal in meinem Leben dann irischen Lachs vom Feinsten und in unbegrenzter Portion. Die Menge des sich daran anschließenden irischen Whiskeys vergoldet die Erinnerung an diesen Abend später ins Unermessliche.

Der nächste Morgen ist dann umso härter. An diesem Samstag, dem 10. März 1984 ist Aufstehen um 6.00 Uhr ist angesagt. Greg steht gut gelaunt und frisch um 7.00 Uhr bereits am Empfang des Hotels, während der Gast noch müde und kaputt seine letzte Tasse Kaffe unter Zeitdruck hinunterkippt. Dieser Tag wird ihm noch die Kondition und Kraft seiner irischen Gastgeber zeigen. Minuten später sind wir beiden in einem komfortablen Volvo auf dem Weg in den Süden Irlands, genauer gesagt mit Ziel Allihies.

Nach ungefähr zehn Minuten wurde es oberhalb des stetig steigenden Aufklärers heller; "gleich sind wir durch" drang Noths Stimme durch die Kopfhörer. Der Höhenmesser zeigte 850 m über Grund an. Auschners Blick überflog die Motorinstrumente. Die verschiedenen Temperatur- und Druckanzeigen lagen alle im Normalbereich und auch die Elektrik zeigte keine Auffälligkeiten, ebenso wenig alle anderen Anzeigen. Plötzlich blitzten ein paar Sonnenstrahlen durch das Cockpit, die Wolkendecke riss auf, ein paar Wolkenfetzen noch, dann schien die Sonne von links hinten voll in die Glaskanzel.

Dümmler und Kuschidlo mit Blick direkt ins Licht schlossen geblendet die Augen und auch Bruno Noth und Hans Auschner mussten sich erst einen kurzen Moment an das gleißende Licht gewöhnen, dass jetzt das Flugzeug umhüllte. Die weiße Wolkendecke schien zusätzlich jeden Strahl zu reflektieren. Endlich sommerliches Sonnenlicht! Jeder der Vier atmete einmal richtig durch! Auschner reduzierte die Drehzahl der Motoren auf Reiseleistung und die Geschwindigkeit des Flugzeugs hielt sich jetzt bei 320 km/h.

Wie auch schon beim Aufstieg durch die Wolkendecke in verschiedenen Höhen nahm der Meteorologe jetzt Temperatur-, Luftfeuchtigkeits- und Luftdruckmessungen vor. Er hatte eine typische Inversionswetterlage festgestellt: Temperatur in Bodenhöhe 15° C, in 800 m Höhe 9° C und in 1000 m Höhe 12° Celsius. Dümmler verschlüsselte die Meldungen und sandte sie dann per Kurzwellen-Tastfunk nach Nantes. Ebenso meldete er jeweils den per Koppelnavigation festgestellten Standort der D7+DK.

Auschner ließ die Maschine weiter steigen. Gegen 6.40 Uhr tauchte bei Westkurs nach 250 km Flugstrecke bereits über dem Atlantik in 1600 m Höhe ein Dunstfeld auf. Noth stellte durch weiteren Aufstieg der Maschine auf 1900 m die Oberseite des Dunstes fest und beauftragte Dümmler die Ergebnisse seiner Messungen nach Nantes zu melden. Ebenfalls wurde die übliche Standortmeldung gesendet. Es gab dabei jedoch, wie auch bereits mehrfach zwischendurch, Verständigungsprobleme mit der Bodenfunkstelle, weil die Funkzeichen zwar klar aber nur sehr, sehr schwach aufgefangen werden konnten. Dümmler und der Funker in Nantes ließen daher den Funkverkehr zum Teil über die starken Sende- und Empfangsanlagen der Überseefunkstelle der Reichsflugsicherung Quickborn bei Hamburg vermitteln. Das war zwar etwas umständlich, aber nicht ungewöhnlich. Der Kurzwellen-Funkverkehr der Wettererkundungsmaschinen weit draußen auf dem Atlantik wurde nicht selten durch atmosphärische Störungen erheblich beeinträchtigt. Die Wetterlage an diesem Tag verschluckte offenbar einen Großteil der Sende- und Empfangsenergie der Kurzwellenfunkgeräte, obwohl Dümmler die 25 m lange Schleppantenne aus Kupferdraht mit ihrem faustgroßen Bleigewicht am Ende ausgefahren hatte, die jetzt sichelförmig auf der linken Seite unter dem Rumpf hinter dem Flugzeug nachgezogen wurde. Aber selbst das half nicht: immer wieder musste Quickborn zwischengeschaltet werden.

Nach dem Passieren des Dunstfeldes nahm Auschner wieder das Gas zurück und tauchte so mit der Maschine in 1500 m Höhe in eine dichte 9/10 Stratokumulusbewölkung ein. Er hatte jetzt einen Nordwest-Kurs eingeschlagen und Noth meldete Dunst und Nebel nach dem Durchstoßen der darunterliegenden, dichten 10/10 Stratokumulusbewölkung. Als Standort wurde 7° westlicher Länge südwestlich von Brest angegeben.

"Na Hans, dann nochmal aufwärts zur Sonne, zur Freiheit" scherzte Bruno Noth, und Auschner setzte die Motoren wieder auf Steigleistung, und ein paar Minuten später stieg die Maschine wieder durch die graue, geschlossene Wolkendecke in den darüberliegenden, strahlenden Sonnenschein auf 900 m Höhe. Regierungsrat Noth hatte alle Hände voll mit seinen Messungen zu tun und auch Gerhard Dümmler war mit dem ständigen Senden der gemessenen Werte recht gut beschäftigt.

Gegen 7.30 Uhr sank man erneut durch die Wolkendecke, stellte dabei Nieselregen fest und erreichte so um 7.45 Uhr den grundsätzlich anzufliegenden Messpunkt 300 km westlich von Brest, nämlich die Koordinaten 49° Nord 9°West. Hier maß der Meteorologe dicht über der Meeresoberfläche den Bodenluftdruck mit 1023 mbar und gab laufend weitere Messwerte nach Nantes durch während des erneuten Aufstiegs durch die Wolkendecke. Auch der immer noch vorhandene, ungemütliche Nieselregen innerhalb der Stratokumulusbewölkung wurde nicht vergessen.

Zur Abrundung des Wetterbildes für den meteorologischen Dienst der Wehrmachtsführung in Berlin stieg die D7+DK jetzt auf 1500 m mit Nordkurs direkt in Richtung auf die irische Südküste. Als oberhalb der Wolkendecke wieder blendender Sonnenschein die Kabine durchflutete, mußte Auschner niesen, und so griff er in die Brusttasche seiner Kombination, um sein Taschentuch hervorzuholen. Dabei stieß seine Hand auf ein gefaltetes Blatt Papier. Er zog es ebenfalls hervor und erkannte, dass dies der Flugbefehl seines Werkstattfluges am 11.7.1943 mit der D7+FK war.

Gegen den ausdrücklichen Befehl, keine Unterlagen mit auf einen Feindflug zu nehmen, hatte er diesen Auftrag noch in der Tasche.

Er hatte einfach vergessen, das Blatt aus der Kombination zu entfernen und in Nantes abzulegen. "Na ja, das wird schon keiner merken. Du darfst es nur nachher nach der Rückkehr in Nantes nicht vergessen" er blickte auf die Borduhr in der Steuersäule. 8.00 Uhr.

Kurz zuvor hatte sich Bruno Noth an den Funker gewandt: "Gerhard, mach doch 'mal eine Kreuzpeilung; ich möchte gerne wissen, ob wir tatsächlich da sind, wo wir auch hingehören." Dümmler versuchte sofort, das Drehfunkfeuer La Coruna anzupeilen. Es gelang jedoch nicht. Die Störungen waren zu stark; also brauchte er Stavanger gar nicht erst zu testen.
Das Drehfunkfeuer Brest war allerdings zu hören. Den Rundfunksender Bordeaux konnte er auch nicht deutlich genug empfangen. Also versuchte er es mit Rennes. Dies gelang, nur woher sollte er jetzt den Sender für die Kreuzpeilung nehmen? Es war zwar bei Todesstrafe untersagt, Feindsender abzuhören, aber wenn es sich aus technischen Gründen einfach nicht umgehen ließ, dann wurde der Sender Doitwich der BBC London auf der Frequenz 198 kHz angepeilt. Und das tat Dümmler dann auch.

"Sag 'mal Gerhard" bemerkte Noth in sein Kehlkopfmikrofon, als er die Stimme des englischen Sprechers hörte "wir sind doch noch gar nicht auf dem Rückweg." Jeder der drei anderen Flieger grinste still in sich hinein. Es war nämlich der fast schon konspirative Brauch, auf dem Rückweg von Irland die Nachrichtensendung der BBC - eben aus stets "umgänglichen" technischen Gründen! - anzupeilen und so die neuesten ungeschminkten Kriegsnachrichten mitzuhören. Dies war umso einfacher, als man den ruhigen Rückflug im Allgemeinen ganz gemütlich genießen konnte, weil es außer der Steuerung der Maschine und der Standortbestimmung und -meldung kaum etwas zu tun gab. Und das Anpeilen des Senders Droitwich war eben unumgänglich. Fast alle anderen Sender wollten sich bei dieser Gelegenheit jedesmal doch einfach nicht anpeilen lassen und die Frequenzen und Standorte der irischen Sender kannte man nicht! Und die genaue Standortbestimmung musste ja nun einmal zwingend sein, wenn man das Leben der Besatzung und die Maschine nicht aufs Spiel setzen wollte! Man war schon ein guter Verein, nicht wahr? Und die Großmäuler in Berlin konnten einen sowieso schon kreuzweise...

Die Peilung stimmte mit der Koppelung überein und ergab den Standort 50°Nord 10°West. Diesmal blickte Noth auf seine Armbanduhr. Das war noch Friedensware - beste Schwarzwälder Qualität; sein Vater hatte ihm vor Beginn des Krieges diese Kienzle-Armbanduhr geschenkt. Er hütete sie als ganz besondere Kostbarkeit. Auch sie zeigte genau 8.00 Uhr. Als er mit der rechten Hand über seine linke Schulter griff, um dem Funker seine Meldung zu geben, spürte er den leichten Druck seines Eisernen Kreuzes an seiner linken Brustseite. Er hatte diese Tapferkeitsauszeichnung kürzlich für die Menge seiner bisher erfolgreich abgeschlossenen Feindflüge erhalten. Ein bißchen freute er sich schon über die Auszeichnung, aber das Wichtigste für ihn war doch, jedesmal gesund und unverletzt wieder nach Hause zu kommen. Nicht umsonst wartete seine Verlobte Ilse in Deutschland auf ihn.

Für den Bordschützen Kuschidlo gab es wenig zu tun. Oberhalb der Wolkendecke genoß er die Aussicht und hing im Übrigen seinen Gedanken nach. Aufgrund der geringen Luftfeuchtigkeit dort konnte er 25 km weit blicken und das sah man nicht alle Tage. Trotzdem freute er sich schon auf das ausgiebige Mittagessen heute nach ihrer Landung in Nantes.

Auschner steuerte nach kurzer Beratung mit dem Regierungsrat jetzt einen leicht östlichen Kompasskurs mit 10°. Sie wollten so die irische Küste an der richtigen Stelle erreichen und dann mit Kurs West dort entlang fliegen.

"Auf eine andere Tour werden wir wohl den "Bull" nicht fangen. Der Felsen mit diesem Leuchtturm wird in Nebel oder starkem Dunst liegen. Wir können ihn mit Sicherheit nicht direkt anfliegen und auf Anhieb treffen." Bruno Noth blickte Hans Auschner an. "Stimmt," antwortet der Pilot "ich versuche den gleichen Anflug, wie die Kameraden gestern. Wird uns gewiss genau so gut gelingen. Schließlich habe ich auch keine Lust, die Pflaume der Staffel zu sein. Wir wären die ersten, die bei diesen Bedingungen aufgeben und die Bodenmessung irgendwo draußen vor der Küste weit auf dem Meer machen würden. Ich will den Bull, und wir werden ihn auch finden. Auf los geht's los."

Die Fahrt führt durch die grüne und völlig ungewohnte Landschaft Irlands zuerst in das Städtchen Killarny. Greg Dooley und sein deutscher Gast stellen dort das Auto ab und können nach kurzem Suchen gegen 9.30 Uhr in einem kleinen Restaurant ein Brötchen mit Marmelade essen; auch ein Kännchen heißen Kaffees bekommen sie - das zweite Frühstück. Der Besitzer hatte soeben seine Tür geöffnet. "Sleepy town" Greg trinkt einen Schluck des heißen Kaffees. Gut 20 Minuten später zahlen sie und verlassen den kleinen Pub. Überraschend gelingt es Greg auch noch, einen warmen Wollschal aus irischer Produktion in einem engen Lädchen zu erstehen. Dann geht die Fahrt weiter in Richtung Süden den Slieve Mishkish Mountains entgegen. Nach Umrundung des Lough Leane steigt das Gelände bis zum 6oo m hohen Peakeen Mount an. Neben der Straße die pure Natur. Die Bergregion wird beherrscht von dichtem Naturwald, in dem es noch Moose und Farne in einer Menge und Vielfalt gibt, wie sie in Deutschland schon gar nicht mehr vorstellbar ist. Man kann sich gar nicht daran sattsehen. Die Männer müssen weiter, und Greg lässt sich nicht aufhalten.

Es folgt der Abstieg ins Tal des Kenmare River und die Fahrt durch den gleichnamigen Ort. Eine Straßenbrücke kreuzt den Sund und sofort nach Ende des Übergangs biegen wir ab nach rechts in eine schmale Straße in Richtung Coulagh Bay. Kurze Zeit später erreicht das Auto die Bucht und wieder geht es rechts ab, auf eine noch schmalere, aber glücklicherweise ebenfalls asphaltierte Straße, die dafür aber jetzt direkt zum Ziel, dem kleinen Ort Allihies führt.

Nach kurzem Suchen findet man das Wohnhaus des Gemeindepfarrers Michael Maher, der die beiden Besucher mit ungewohnter Herzlichkeit empfängt. Es ist Mittagszeit und der Pfarrer lädt die Beiden zum Essen ein. In einem karg möblierten Raum wird ein kurzes Gebet gesprochen, nach dem die Haushälterin ein hervorragendes Mittagsmal mit Lammfleisch aufträgt. Der Besucher aus Deutschland hat nie zuvor und nie wieder später ein so schmackhaftes Lammfleisch gegessen. Es fällt dem mit Reichtümern bestimmt nicht gesegneten Gemeindepfarrer sicher nicht leicht, ein gewiß so teures Mal für drei Personen zubereiten zu lassen. Beschämt wird dies der deutsche Besucher später, - nach seiner Rückkehr in Deutschland - nicht vergessen und sich nach besten Kräften revanchieren!

Anschließend führt Michael Maher seine Gäste in sein ungeheiztes Wohnzimmer, zündet das Holz in seinem offenen Kamin an und bietet einen echten Irish Coffee an. Das kochendheiße Getränk tut ganz besonders dem ausländischen Gast recht gut, denn bei einer Außentemperatur von eben 10°C Anfang März sitzt es sich für deutsche Verhältnisse noch nicht besonders gemütlich in einem ungeheizten Raum. Diesen Temperaturen begegnen offensichtlich die Einheimischen dort lediglich mit etwas wärmerer Unterkleidung und dem typischen Pullover aus irischer Schafswolle. Auch die Frage nach der Ursache für den besonders angenehmen Geschmacks des jetzt angebotenen Irish Coffees wird geklärt. Hier in Irland wird der absichtlich dünnere Kaffee natürlich mit irischem Whiskey versetzt, und der ist nun einmal eben wesentlich weicher gebrannt, als dies die schottische Konkurrenz kann!

Ein Auto hält vor dem Fenster des Wohnzimmers. Ein älterer kahlköpfiger Mann entsteigt dem alten Ford. Er trägt Gummistiefel, eine graue Cordhose und dazu eine Jacke über einem der dicken, irischen Pullover. Der Mann hat den unverwechselbaren Habitus eines Landwirts. "Da kommt Michael Murphy" der Pfarrer öffnet die Haustür und stellt bei Überschreiten der Schwelle die beiden Besucher vor. Es gibt eine dem Deutschen völlig ungewohnte Art der Begrüßung unter Fremden, nämlich eine herzliche Umarmung.

Das folgende Gespräch ist nur kurz. Man besteigt unverzüglich gemeinsam das Auto des Pfarrers und fährt los auf der schmalen Straße in Richtung des Ballinacarriga Hill.

Na dann wollen wir uns 'mal die irische Küste ansehen. Adieu, du strahlender Sonnenschein und du blauer Himmel". Auschner nahm das Gas zurück, drückte die Maschine leicht an und schon griffen wieder die ersten Wolkenfetzen nach der Maschine. 20 Sekunden später umfing sie wieder das triste Grau der geschlossenen Wolkendecke. Gleichmäßig sank das Flugzeug der Wasseroberfläche entgegen.

Zwischendurch nieselte es leicht und es bildeten sich Wassertropfen und Wasserschlieren auf den Cockpitscheiben. Die bisher gute Stimmung des strahlenden Sommertages über den Wolken machte einer bedrückten Gemütslage Platz. Der Anflug auf die irische Küste und die Sicht auf den "Bull" würden nicht so leicht sein. Trotzdem war der Pilot guten Mutes. Seine Blindflugausbildung war solide und zahlte sich jetzt in den Wolken ohne jede Bodensicht aus. Die Maschine sank weiter. Hans Auschner gingen die letzten Wochen durch den Kopf. Während seiner Ausbildung Ende vergangenen Jahres - also im Dezember 1942 - befahl man ihn kurzzeitig als Teil einer Sondereinheit an die Ostfront zu Versorgungsflügen in den Kessel von Stalingrad mit einer Dornier Do 17. Die alten Hasen in der Einheit empfahlen den jungen Piloten möglichst "2 Zentimeter unter der Grasnabe" zu fliegen; sie waren im Tiefstflug damit wenigstens einigermaßen sicher vor der russischen Flak bei den An- und Abflügen auf den Flugplatz in Stalingrad, und auch gegen die Jäger konnte man sich so besser verteidigen, die somit nur von oben angreifen konnten. Auch wurde man im Tiefflug insgesamt schlechter vom Feind entdeckt. Hans Auschner machte es zum gern geübten Brauch, sich im Tiefstflug zu üben, obwohl die Luftwaffe entsprechende Vorschriften zu Mindestflughöhen hatte. Er hatte sich schon einen heftigen Verweis eingefangen, als er beim Flug am Donnerstag, 29. April in Deutschland so tief unterwegs war, daß er in nur ca. 8 m Höhe über dem Boden eine Telefonleitung "mitgenommen" hatte. Er zählte aufgrund seiner fundierten Ausbildung - sogar mit Blindflugschein - zur Spitze der Luftwaffepiloten und war praktisch so gut wie unentbehrlich. Also, was sollte ihm schon passieren?

Noth dagegen machte ständig seine Messungen und Dümmler gab die Meldung. "Bis Feld 15 W 01 Sc-Decke zwischen 200 bis 300 und 800 m. Untergrenze gegen SW-Spitze Irland vermutlich absinkend auf 50 bis 100 m. Nur vor Irland einzelne Ac. Unter der Decke stark dunstig. Sicht anfangs 2 bis 5 km, gegen Irland 1 bis 2 km" über die 25 m lange Schleppantenne unverzüglich weiter. In Nantes wußte jetzt jeder, daß die D7+DK somit die Koordinaten 51°30' Nord 10° West überflogen hatte, die Untergrenze der Wolkendecke bei 200 m - 300 m und die Obergrenze bei 800 m lag, wobei die Untergrenze gegen die Südwest-Spitze Irlands auf 50 bis 100 m absank. Lediglich vor Irland gab es einzelne Altocumulluswolken. Unterhalb der Wolkendecke war der Dunst so stark, daß die anfängliche Sicht von 2 km bis 5 km geringer wurde und gegen Irland nur noch 1000 m bis 2000 m betrug. Nur für Kuschidlo gab es nichts zu tun. Es hatte noch nicht einmal Sinn für ihn, aus dem Fenster zu sehen. Es gab nur undurchdringliche Wolken.

In 200 m Höhe fing Auschner die Maschine ab, schob etwas Gas nach und sank vorsichtig weiter, bis in 150 m Höhe die glatte Meeresoberfläche in Sicht kam. Kein Luftzug kräuselte das Wasser. Sie hatten jetzt Kurs direkt auf die irische Südküste. Noth registrierte Sichtweiten bis maximal 2000 m und noch darunter. Die Wolkendecke sank zeitweise bis auf 50 m. "Scheiß-Sicht" Auschner wandte sich zu Bruno Noth. "Bruno, das wird wirklich schwierig, den "Bull" zu finden. Ich versuche, mich mit Westkurs an der Küste entlang zu hangeln, so wie Fritz Plehn gestern auch." Zusätzlich zur Meldung der Wetterdaten und des Standorts, teilten sie der Funkstelle in Nantes noch die äußerst schlechte Sicht mit und ihre Schwierigkeiten beim Anflug auf die Küste und den Leuchtturm "The Bull". Dümmler nahm eine weitere Kreuzpeilung der Rundfunksender Droitwich und Rennes und versuchte auch noch einmal, das Drehfunkfeuer La Coruna anzupeilen. Den errechneten Standort verglich Noth noch einmal mit ihrer Koppelnavigation. Er bat Dümmler diese Daten der Bodenfunkstelle Nantes mitzuteilen und sich die Übereinstimmung mit der in Nantes vorgenommenen Koppelnavigation bestätigen zu lassen. Dümmler begann zu funken.

"Na, na, na" klang in diesem Moment Auschners Stimme in den Kopfhörern. Direkt voraus in 1000 m Entfernung tauchte die Küstenlinie aus dem Dunst auf. Der Flugzeugführer legte die Maschine in eine steile Linkskurve und sagte zu dem Meteorologen: "Bruno, sieh doch 'mal, wo wir jetzt genau sind. Du hast doch die Karte."

Noth hatte tatsächlich bereits die Landkarte von Südirland auf dem vom Schreiner der Staffel für die Wetterbesatzungen speziell angefertigten, hölzernen Kniebrett auf seinen Oberschenkeln ausgebreitet. Er blickte jetzt nach rechts durch die Wassertropfen und Wasserschlieren auf der Verglasung, um an der Küste einen Orientierungspunkt zu finden. Kuschidlo, der mit dem Rücken zur Flugrichtung saß, blickte ebenfalls zur Küste, allerdings nach links.

Noth sah jedoch im Moment recht wenig, weil ihm die hoch erhobene rechte Tragfläche und die mächtige, vorhängende Motorgondel fast völlig die Sicht versperrten. Die Uhr in Auschners Steuersäule zeigte 8.24 Uhr und laut Kompass lag jetzt Kurs 290° an.

Die Tragfläche hatte sich soeben wieder gesenkt und der Regierungsrat suchte weiter intensiv nach einem Orientierungspunkt, als Auschners lautes "verdammt" durch die Kopfhörer drang. Noth blickte hoch und Kuschidlo versuchte, sich über die linke Seite in Flugrichtung zu drehen. Dümmlers Zeigefinger hämmerte soeben die Bitte um Bestätigung des Standorts auf die Morsetaste.

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Urplötzlich tauchte direkt in Flugrichtung aus dem dichten Nebel ein nach links abfallender Hügelrücken in etwas höherer Lage als das Flugzeug auf. Und dabei lag doch die Küstenlinie eindeutig rechts von ihnen! Überrascht zog Auschner das Steuerhorn an sich und schob die Gashebel auf Vollgas. Das ruhige Brummen der Motoren schwoll fast schlagartig an zu einem harten Dröhnen. Die D7+DK begann zu steigen.

8.25 Uhr Deutsche Sommerzeit am Freitag, dem 23. Juli 1943.

Michael Murphy und seine beiden Kameraden hörten die Maschine durch den undurchdringlichen Nebel wie ein Phantom auf sich zukommen. Plötzlich gingen die Motoren offenbar auf Vollgas und dem Iren schoss in diesem Moment durch den Kopf: "Jungs passt auf, bei dem Nebel!" Im gleichen Augenblick dröhnte ein schmetternder Schlag durch den wabernden Nebel und schien das Beobachtungshäuschen in seinen Grundfesten zu erschüttern. Erschrocken notierte Corporal Harrington die Uhrzeit im Tagebuch: 7.25 Uhr. Dann rannten alle drei so schnell sie konnten dem Kamm des Berges in Richtung Atlantik hinunter.

Genau zu diesem Zeitpunkt hob Peter Wendel, der Funker in Nantes, erstaunt den Kopf. Soeben war schlagartig die Funkverbindung zu Gerhard Dümmler abgerissen. Wendel notierte 8.25 Uhr und rief mehrfach die Maschine. Aber er erhielt keine Antwort mehr. Als sich die Maschine um 8.29 Uhr auf seine ultimative Aufforderung hin ebenfalls nicht mehr meldete, notierte er als endgültigen Abbruch des Funkverkehrs 8.29 Uhr und die Vermutung eines Unfalls aufgrund der schlechten Sicht.

Auch der Funker in London blickte überrascht von seinen Unterlagen hoch: "Na, was ist denn da los?" John Beam kam aus dem Nebenraum herüber und beugte sich über die soeben aufgefangene Meldung der D7+DK. Der schlagartige Abbruch der aufgefangenen Funkmeldung war absolut ungewöhnlich.

Als sich dann die Maschine auf die Rufe aus Nantes nicht mehr meldete, notierte er seine Vermutung über einen möglichen Unfall der Maschine. Diese Eintragung wurde dann ins Kriegstagebuch des englischen Kriegsministeriums übernommen.

Das ungeschriebene, aber jedem bekannte Gesetz auch in der Wekusta 2 hieß "Verlasse nie die notwendige Sicherheitshöhe" und bei dieser schlechten Sicht hätte Hans Auschner niemals so dicht an die irische Küste heranfliegen dürfen. Auch der Meß- und Navigationspunkt "The Bull" war nicht zwingend vorgeschrieben.

Es lag in der freien Entscheidung von Hans Auschner, ob er mit Sicht auf die irische Küste den "Bull" anfliegen wollte, oder ob er zusammen mit Reg. Noth die meteorologischen Messungen sicherheitshalber weiter vor der Küste vornehmen wollte. Die - aus jetziger Sicht - schicksalhafte Warnung bei der "Mitnahme" einer Telefonleitung vor einigen Wochen während eines Trainingsflugs in Deutschland hatte Hans Auschner offenbar nicht erkannt und bei dem gefährlichen Anflug auf die irische Küste offenbar auch nicht im Sinn. Während seiner Versorgungsflüge nach Stalingrad war der hinter vorgehaltener Hand erteilte Rat der erfahrenen Piloten an die jungen so tief wie möglich zu fliegen; sie umgingen damit der russischen Flak und auch deren Jagdflugzeugen. "Jungs, immer nur 5 Zentimeter über der Grasnabe bleiben!" hieß der Tip. Und so trainierte der Unteroffizier stets den extremen Tiefflug wann immer dies möglich war und war sich trotz des Vorfalls mit der Telefonleitung seines Könnens absolut sicher. Der nach rechts ansteigende Hangrücken der Halbinsel mit dem Bellinacarriga Hill lag ab ca. 50 m Höhe in einer tiefhängenden, undurchdringlichen Wolke. Nach links fiel der Hangrücken sichtbar ab, so daß die JU 88 nur zwischen der Unterkante der Wolke und der Oberseite des Höhenrückens den Bellinacarrige Hügel hätte queren können, ohne ihre Flugrichtung nach links zur See zu ändern. Die Flughöhe zu erhöhen war nicht möglich, weil der Pilot dann sofort die Bodensicht und damit die Orientierung im bergigen Gelände verloren hätte. Auschner, der sich seiner Tiefflugfähigkeiten absolut sicher war, versuchte daher, den Hügel im Tiefstflug zu überqueren. Offenbar realisierte er dabei nicht, daß die Hügeloberkante nicht nur stetig nach rechts anstieg und damit die Bodenfreiheit verringerte, sondern diese auch in Flugrichtung fast senkrecht aus dem Meer anstieg und eine genaue Schätzung der Höhe der Oberkante aus seiner Sicht äußerst schwierig war. Und so überschätzte er seine augenblickliche Flughöhe und damit seine Bodenfreiheit um ca. zwei Meter und kollidierte dann mit der Oberseite des Hügelrückens.

Die drei Iren erreichten innerhalb einer Minute den Aufschlagpunkt der Maschine auf der Hügeloberkante unterhalb der Unterseite der Wolke, die das Beobachtungshäuschen und die Bergspitze einhüllte. Der nordwestliche Abhang des Berges war ein mit Trümmern übersätes Flammenmeer. Selbst eine dort aufgestellte Heumiete brannte lichterloh. Größere Wrackteile waren kurz vor dem Wohnhaus des dort lebenden Farmers zum Stillstand gekommen. Der Mann kam völlig überrascht aus seinem Haus gerannt; sein erster Eindruck ließ ihn an einen feindlichen Angriff glauben.

"Ja Rolf, und hier habe ich die vier toten Flieger dann nebeneinander ins Gras gelegt. Ihre Hände waren noch warm, als ich sie anfasste. Ich werde nie ihre blütenweißen Hemden mit den blauen Uniformen und den gelben Halstüchern vergessen. Es waren drei jüngere, recht große und gut aussehende Flieger und ein etwas älterer; sein dunkler Teint fiel mir besonders auf und er hatte wohl das Becken gebrochen. Sonst schienen alle äußerlich unverletzt zu sein, bis auf kleine Brandwunden im Gesicht. Wir fanden die Vier zusammen im Umkreis von 10 Metern liegen. Sie waren ungefähr 20 Meter entfernt von den Resten des brennenden Rumpfs. Das Flugzeug war völlig zerstört, so dass wir noch nicht einmal feststellen konnten, um welchen Typ es sich handelte."

Michael Murphy spricht - wie scheinbar alle Iren - aufgrund seiner einfachen Ausdrucksweise ein leicht verständliches Englisch; der Besucher muss sich nur zuerst an die Aussprache und den Klang der Worte des älteren Mannes gewöhnen. Die drei Iren und der Besucher aus Deutschland blicken zum Hügelkamm hinauf, von wo aus die sich zerlegende JU 88 hinter den zuvor hinausgeschleuderten Männern her taumelte. Die bildliche Vorstellung und Übertragung dieser Szene auf den jetzigen Augenblick treiben dem Mann aus Solingen buchstäblich die Nackenhaare in die Höhe!

Beim ungezielten Stochern in einem nahen Steinwall werden drei Blechteile einer Tragfläche mit einem aufgenietetem Fabrikationsschild der D7+DK gefunden, die im Kofferraum des Volvo ihre Rückreise nach Deutschland antreten. Offensichtlich liegen unter der Grasnarbe des Hangs noch eine Menge anderer Wrackteile! Aber wo mögen wohl die beiden großen Motoren geblieben sein, deren eine Propellernabe sichtbar in einen niedrigen Steinwall eingearbeitet wurde?

Der Aufstieg zur Aufschlagstelle an der Hügeloberkante ist recht steil und für die drei Männer anstrengend. Das steinerne Beobachtungshäuschen steht immer noch an seinem Platz an der Spitze des Bergs und die Sichtweite lässt an diesem schönen Vorfrühlingstag keine Wünsche offen. Nach kurzem Suchen findet Michael Murphy die Stelle, an der die Maschine eine 5-Markstück große Vertiefung in einen Felsbrocken schlug. Ich selbst lege meine Armbanduhr in die Stelle und mache ein Foto.

"Und hier" der ehemalige Soldat geht ein paar Schritte zur Seite in Richtung des Beobachtungshäuschens "hier hat eine Tragfläche mit Beginn am aufsteigenden Hang bis zur Oberkante des Hügelgrats ungefähr 25 cm tief die Grasnarbe aufgerissen."

Und der über sechzig Jahre alte Murphy erzählt weiter vom größten Erlebnis seines Lebens, dem Absturz der Maschine, der Bergung und dem Begräbnis der deutschen Besatzung auf dem Friedhof am gegenüberliegendem Berg mit Blick auf die Unfallstelle.

Die Zeit ist an diesem Tag schon recht weit fortgeschritten, als die drei Männer den Rückweg antreten. Am Haus des Pfarrers verabschiedet man sich herzlich; Michael Murphy kann es immer noch nicht fassen, dass tatsächlich nach über 40 Jahren "so far away, from Germany" jemand speziell zu ihm kommt, um die Geschichte seines Lebens zu hören. Eines Lebens in einfachen Verhältnissen, weit entfernt von der Hektik und den Geschehnissen der weiten Welt und arm an Erlebnissen, geprägt von der täglichen, schweren Arbeit auf seinem kleinen Bauernhof.

Die Nacht bricht herein und voller Schrecken denkt der Deutsche an die bevorstehende Rückfahrt durch die Berge nordwestlich von Allihies. Und Greg Dooley fährt den Volvo tatsächlich weniger über die kleine, schlecht ausgebaute Nebenstrecke, als er vielmehr das schwere Fahrzeug tief zu fliegen scheint. Bei jeder scharfen Kurve klappern im Kofferraum die Blechteile der D7+DK und die Gedanken seines Beifahrers gehen zurück zu den Geschehnissen jenes 23. Juli 1943. Die Worte Michael Murphys noch im Ohr sieht er in seiner Vorstellung die vier Toten, deren Schicksal ihn nun schon seit Monaten intensiv beschäftigt, am Hang liegen - Bruno Noth mit gebrochenem Becken. Er schaut kurz nach links aus dem Autofenster in die Dunkelheit zum Straßenrand mit seinen großen Steinen.

Schaute ihn da nicht das Gesicht eines der vier Männer an, aber wieso mit langem Bart? "Quatsch, jetzt drehst Du noch völlig durch. Du bist doch hier nicht in einem amerikanischen Gruselthriller!" Der Mann ruft seine Gedanken zur Ordnung und konzentriert sich auf die Strecke. "Da!! Halt Greg!!" der Beifahrer tritt mit seinem rechten Fuß fast ein Loch in das Bodenblech des Autos in dem sinnlosen Bestreben zu bremsen. Das Licht der Autolampen hat soeben bei der Ausfahrt aus einer zu schnell gefahrenen, scharfen Kurve vier große Körper mitten auf der Fahrbahn erfasst.

Entsetzt reißt der Deutsche die Augen auf "Da liegen die Vier aus der JU 88 tatsächlich auf der Straße!"

Die Eindrücke der letzten beiden Tage und die augenblickliche geistige Erschöpfung lassen die Phantasie des Deutschen grenzenlos und kaum beherrschbar werden. Der Wagen schleudert und kommt eben rechtzeitig zum Stehen. Im Scheinwerferkegel des Volvos liegen tatsächlich vier Lebewesen mitten auf der Straße - vier der zotteligen, irischen Schafe, die in der kalten Nacht wohl die Restwärme des Asphalts nutzen. Das bärtige Gesicht am Straßenrand gehörte zu einem fünften Tier.

Es geht weiter. Offenbar ist die Kunde von Leitplanken zur Straßenbegrenzung noch nicht bis in diesen Landstrich vorgedrungen. "Sag’ 'mal Greg, was passiert eigentlich, wenn wir hier links oder rechts einem der steilen Abhänge hinunterstürzen würden?" Greg wendet sich locker grinsend nach rechts: "Ach, der nächste, der vorbeikommt würde uns mit Sicherheit helfen."

Bis zur Einmündung auf die gut ausgebaute Landstraße bei Kenmare - nach einer Fahrtzeit von 45 Minuten - begegnet den beiden während der Fahrt zu dieser Zeit allerdings nicht ein einziges Fahrzeug, und auch im Rückspiegel sah man nicht einmal die Scheinwerfer eines anderen Autos. Die schnelle Fahrt geht weiter in Richtung Killarney. Es ist wirklich stockdunkel und auf der kurvenreichen Strecke durch die Bergregion vor dem Städtchen kommt ihnen auch noch jedes Auto scheinbar auf der falschen Straßenseite entgegen - Linksverkehr in Irland! Der Deutsche nimmt dies zum Anlass den soeben in Deutschland kursierenden Witz mühsam und unter Wahrung der Pointe in Englisch zu erzählen:

Zwei Freunde treffen sich zufällig in Ostfriesland. Erzählt der erste, dass er nach England in Urlaub fahren und mit dem Auto die Insel erkunden werde. Die Fahrt mit der Fähre Hamburg-London sei bereits gebucht.

Der zweite Ostfriese: "Mensch da ist aber doch Linksverkehr."

Der Erste: "Wie Linksverkehr?"

Der Zweite: "Ja, da fährt man links auf der Straße." Ungläubig fährt der Erste weiter.

Einige Wochen später treffen sich die beiden wieder. "Na, wie war's in England im Urlaub?" fragt der Zweite. "Ich hab' die Reise storniert und war nicht in England."

Überrascht der Zweite: "Wieso denn nicht?"

Wieder der erste Ostfriese: "Ich hab' mich im Reisebüro erkundigt. Da ist tatsächlich Linksverkehr. Um etwas sicherer zu sein, habe ich das zwischen Leer und Aurich drei Tage lang geübt. Mann, das ist vielleicht gefährlich!!!"

Greg lacht sich halbtot und verreißt vor Begeisterung in der nächsten Kurve das Auto so, dass es fast quer zur Fahrtrichtung aus der Kurve herauskommen. Jetzt hat der Beifahrer endgültig die Hose nass - sozusagen.

00.30 Uhr. Greg will noch zum Tanz. Für ihn waren weder die Fahrt noch der Aufstieg auf den Berg anstrengend. Auch die kühle Temperatur beeindruckte ihn ebenso wenig, wie die beiden Männer in Allihies. Der Deutsche jedoch fällt im angenehm geheizten Hotelzimmer in Shannon todmüde ins Bett und löscht das Licht.

Die vier toten Männer vom Ballinacarriga Hill spuken immer noch durch seinen Kopf und der Gedanke an die jetzt neben ihm im Koffer liegenden Wrackteile der Maschine sträuben ihm ein weiteres Mal buchstäblich die Nackenhaare. Was hätte er jetzt in diesem Moment darum gegeben, seine Frau neben sich im zweiten Bett zu wissen!

Der Sonntag verfliegt beim Besuch der Umgebung von Limerick, die Greg Dooley seinem Gast zeigt und dabei mit ihm die Erlebnisse des gestrigen Tages diskutiert.

Am Montagmorgen, 12. März 1984, ist Aufstehen um 5.30 Uhr angesagt. Die Maschine nach Dublin startet in Shannon schon um 7.40 Uhr. Der Deutsche will zum Archiv des Verteidigungsministeriums der Republik Irland. Dort wurde schon vor Wochen ein Besuchstermin für diesen Tag vereinbart. Commandant Peter Young ist freundlich und zuvorkommend. Er holt nicht nur alle benötigten Akten hervor, vielmehr findet er auch die verstaubten Landkarten, und genau diese sind ganz besonders wichtig. Außerdem ruft er noch den in der Nähe wohnenden Historiker für Luftfahrt in Irland, Tony Kearns, herbei. Tony ist auch kurze Zeit später an Ort und Stelle und bringt seine Kenntnisse in die Überlegungen des Gastes ein. Der halbe Tag verfliegt beim Studium der Unterlagen und der Diskussion mit den beiden Iren. Von allen Papieren dürfen Fotokopien für die Akten des Deutschen angefertigt werden und dabei befindet sich auch das wichtigste Blatt Papier überhaupt - ein deutscher Flugbefehl!

Der Flug ab Dublin um 16.00 Uhr nach London verläuft problemlos, und in Heathrow wartet der bekannte englische Kunstmaler Michael Turner am Schalter der Lufthansa. Die beiden besprechen die Ergebnisse des Besuchs in Irland und beraten gemeinsam die Grundlage für die Komposition eines anzufertigenden Bildes der JU 88 D7+DK. Fotos und weitere Einzelheiten des schicksalhaften 23.7.1943 wird der Maler noch später per Post erhalten. Das Bild wird die Situation JU 88 D-1 mit ihrer Besatzung so vor der irischen Küste zeigen, wie es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kurz vor dem Unfall war.

Die Klärung und Besprechung der Details ist noch einmal sehr anstrengend für den Deutschen, weil sie natürlich in Englisch erfolgt. Und Michael Turner spricht selbstverständlich ein gepflegtes Oxford-Englisch mit entsprechendem Wortschatz, so daß der Deutsche ständig nach der Bedeutung der ihm nicht bekanten Ausdrücke und Idioms nachfragen und sich in höchstem Maß konzentrieren muss.

Zwei Jahre später trifft man sich dann noch einmal, diesmal allerdings im Atelier von Michael Turner. "So Michael, hier sind die Fotos und der vorläufige Bericht". Michael Turner - einer der bekanntesten englischen Luftfahrt-Maler des 20. Jahrhunderts - beugt sich über die Fotos auf dem Tisch in seinem Studio in einem Vorort von London.

Diese Aufnahmen von Bombern des Typs Junkers JU 88 D-1 stammen allesamt aus dem Archiv des "großen alten Mannes" der deutschen Luftfahrtgeschichte, dem Schriftsteller Heinz Nowarra.

Er hat sie mir großzügig zur Verfügung gestellt, und nun liegen sie hier auf dem Tisch des weltbekannten Malers, der aus den verschieden Einzelheiten und Ansichten ein Bild komponieren soll - das Bild der JU 88 D-1 mit dem Kennzeichen D7+DK.

"Rolf, ich zeige Dir meine Entwürfe mit den verschiedenen Ansichten. Du musst Dich dann nur noch für eine Ausführung entscheiden." Michael Turner lächelt und bietet seinem Gast einen Whiskey an. Das Atelier ist gespickt mit Zeichnungen, Entwürfen, soeben begonnenen Bildern, halbfertigen und auch beendeten Gouachen und Acrylfarb-Bildern. Sie zeigen in erster Linie englische Flugzeuge des ersten und zweiten Weltkriegs, moderne Düsenjets, aber auch Szenen aus dem Seekriegsgeschehen.

Airliner der zivilen Luftfahrt fehlen fast völlig; es gibt praktisch keine Nachfrage nach diesen Motiven. Für den Mann aus Deutschland sehr bedauerlich. An einem schönen Bild mit einer DC 9, B 727, B 737 oder DC 3, DC 6, Lockheed ELEKTRA oder Super Constellation hätte er schon ganz besonders Freude. So etwas gibt es aber tatsächlich nicht - weder als Reproduktion und schon gar nicht als sowieso kaum bezahlbares Original.

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Als der Besucher dann in Düsseldorf am Abend des 12.3.1984 – dem Montag - abermals aus einer Lufthansa Boeing 737 aussteigt und gegen 22.30 Uhr von seiner Frau abgeholt wird, sind ihre ersten Worte, nach einem kurzen Blick auf ihren Mann: "Du bist aber erschöpft!"

Bis heute Nachmittag im irischen Verteidigungsministerium wußte der Autor - und das ist der Irland-Reisende natürlich, wie der geneigte Leser gewiss längst weiß - noch nicht, welches Kennzeichen die Maschine hatte, woher sie kam und wohin sie wollte.

Er wusste nur folgendes: eine JU 88 war in Irland verunglückt. An Bord war außer den jugendlichen Mitgliedern der deutschen Luftwaffe - also Soldaten - noch ein Mann im zivilen Rang eines Regierungsrats, der bereits 32 Jahre alt war. Die wichtigste Frage war zu diesem Zeitpunkt: was tut ein deutscher Bomber im neutralen Irland mit einem 32 Jahre alten Zivilisten an Bord? Und wieso verunglückt ein 32 Jahre alter Zivilist, dessen größtes Ziel im Krieg mit Sicherheit war, wieder heil nach Hause zu kommen?

Nun endlich hatte ich den Schlüssel zur Lösung des Rätsels in der Hand: die Iren hatten 1943 den Flugauftrag für den Werkstattflug in Nantes in der Tasche des toten Hans Auschner gefunden und ich hatte im irischen Verteidigungsministerium eine Fotokopie dieses Dokumentes bekommen! Der Flugauftrag enthielt ursprünglich die Namen von drei Besatzungsmitgliedern und eines Prüfmeisters. Die Namen der Besatzungsmitglieder waren gestrichen und durch die Namen Auschner, Dümmler und Kuschidlo ersetzt. Da diese drei mit Sicherheit tot sind, kamen als evtl. Überlebende infrage: die drei gestrichenen Namen und der Prüfmeister. Und das vielleicht Wichtigste: der Name und die Unterschrift des Offiziers auf dem Flugefehl. Die Wehrmachtsauskunftstelle in Berlin teilte mir mit, dass die drei aufgeführten und dann gestrichenen Flieger entweder fielen oder bis heute vermisst sind. Über den Prüfmeister gab es gar keine Unterlagen. Währenddessen hatte ich im Bundesarchiv Freiburg mit Hilfe eines ehemaligen Angehörigen einer anderen Wettererkundungsstaffel den Originalflugauftrag der Besatzung der D7+DK für den 23.7.1943 gefunden - ein weiterer wichtiger Mosaikstein im Puzzle der Erkenntnisse über den Unfall. Aus Berlin erfuhr ich aber auch, daß der spätere Staffelführer der Wettererkundungsstaffel 2 des Oberbefehlshabers der Luftwaffe (Wekusta 2 Ob.d.L.) in Nantes den Krieg wohl überlebt hat und zuletzt in Bremen wohnte. Das war der Mann, der den Flugauftrag für den Werkstattflug unterschrieben hatte!

Die Telefonauskunft nannte mir insgesamt drei Telefonnummern in Bremen, die auf diesen Namen eingetragen waren. Beim ersten Versuch meldete sich der Besitzer eines Pferdestalls. Ich trug meine Frage vor. Mein Gesprächspartner am Telefon erklärte mir, daß er mit der Sache nichts zu tun habe. Er habe allerdings eine Freundin und die sei Stewardess bei der Lufthansa und habe ihm von einem Mann dieses Namens erzählt. Und dieser Mann sei Ausbilder bei der Pilotenschule der Lufthansa in Bremen. Alles Weitere waren nur noch Routinetelefonate.

Das Ergebnis ist einfach: ich sprach zwei Nachmittage lang im Flughafenrestaurant in Bremen mit dem ehemaligen Staffelführer Hans Auschners, und seitdem trägt die Fotokopie des Flugauftrags nicht nur die kopierte Unterschrift dieses Mannes von 1943 sondern auch das Original von 1984! Ich bekam Fotos, ausführliche, schriftliche Berichte, lernte per Telefon einen weiteren Piloten der Einheit kennen und traf mich mit einem ehemaligen Bordschützen. Dr. Martin Teich, der Meteorologe, der jahrelang im ZDF allabendlich die Wettervorhersage machte, war im Krieg selbst Wetterflieger im Hohen Norden Norwegens. Auch er half mir und führte mich in die Welt der damals fliegenden Meteorologen ein. Die Wetterämter Offenbach und Dublin, die Verteidigungsministerien in England und Irland, der Augenzeuge Michael Murphy und der Pfarrer Michael Maher, die deutschen Archive und viele Privatpersonen halfen mir. Und so bin ich mir sicher, dass der letzte Flug der D7+DK mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so ablief, wie ich ihn schilderte.

Und trotzdem hätte buchstäblich um Haaresbreite niemand je erfahren, was 1943 in Irland genau passierte. Hier noch ein Erlebnis als Warnung für alle, die von den damaligen Geschehnissen jetzt nicht unberührt geblieben sind und heute offene Ohren und Augen für das Leben und seine Gefahren haben.

Während der Zeit meiner Recherchen trat ich eine Autofahrt zum Bodensee an. Nun bin ich mein ganzes Leben lang von jung an gerne Auto gefahren und komme auch heute noch recht problemlos überall da an, wo ich will. Straßenkarten zu lesen, fällt mit im Allgemeinen nicht schwer und so bin ich mir sicher, stets genau zu navigieren und überall hin zu finden. Auf der Fahrt nun meldete der Verkehrsfunk vor Heilbronn einen Stau, den ich natürlich gekonnt mit Blick auf meine Autokarte über die Landstraße umfahren wollte. Die Gelegenheit war also günstig, meiner Frau die überragenden Navigationskünste ihres Mannes zu demonstrieren und ihr eigenes Unvermögen beim Finden der richtigen Strecke zu zeigen. Also übernahm sie das Steuer und wir fuhren an einer Abfahrt rechtzeitig vor Beginn des Staus ab. Die Fahrtrichtung stimmte, ich hatte die Karte auf den Knien und sah keine Probleme, jetzt einmal richtig meine Unfehlbarkeit zu zeigen. Aber wir gerieten in mittleren Nebel, und aufgrund der fehlenden Sicht auf die Sonne verlor ich in kurzer Zeit nicht nur das Gefühl für die Himmelsrichtungen, sondern auch völlig die Orientierung zumal die Karte auch noch zu großmaßstäbig war, als daß sie mir in dieser Situation helfen konnte.

Nun, anhand der Straßenschilder fanden wir die Autobahn nach erheblicher Mühe dann doch wieder, nur nicht an genau der Auffahrt, die ich geplant hatte. Der Stau war allerdings tatsächlich umgangen. Trotzdem, der Spott meiner Fahrerin war beißend, aber noch viel mehr weh tat mir mein eigenes erbärmliches Versagen! Es war für mich kein guter Tag und so steigerte sich mein Ärger über mich selbst von Kilometer zu Kilometer. Kurz hinter Stuttgart in Richtung Singen auf der Autobahn suchte ich einen Apfel, der nach Angaben meiner Frau in der Plastiktüte auf der Mittelkonsole lag. Im Allgemeinen liegt dort die Abfalltüte bei längeren Überlandfahrten. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß der Apfel in der Abfalltüte sein sollte, sagte dies auch, suchte ihn aber trotzdem dort und fand ihn natürlich nicht.

Meine Frau bestand jedoch darauf, daß der Apfel in der Tüte sei; daraus entwickelte sich ein mittlerer Streit in dessen Verlauf sie dann mit der rechten Hand und mit Blick auf die Tüte begann, den Apfel zu suchen. Mit der linken Hand führte sie das Steuerrad.

Währenddessen hielt der Autopilot - wir fahren fast immer mit Autopilot! - die Geschwindigkeit zuverlässig bei 130 km/h. Und dann beging ich in meinem Zorn einen weiteren Fehler, den ich mir bis heute nicht verzeihe: auch ich blickte schimpfend auf die Tüte! Irgendwann sah meine Frau in Fahrtrichtung hoch. Ich hörte ein überraschtes "Herrgottle!" und das Auto wurde plötzlich und heftig nach links gezogen.

Wir hatten beide eine leichte Linkskurve der Autobahn nicht kommen sehen und waren mit Tempo 130 bereits auf dem Standstreifen und mit der rechten Seite dicht vor der uns entgegenkommenden Leitplanke.

Nur 2 Sekunden später und am nächsten Tag hätte eine Zeitungsmeldung von einem tödlichen Unfall auf der Autobahn bei Stuttgart berichtet. Bei klarer Sicht, trockener Fahrbahn und geringem Verkehrsaufkommen wäre ein intakter PKW mit zwei Insassen aus völlig unerklärlichem Grund von der Fahrbahn abgekommen und ohne jede Bremsspur in die Leitplanke gerast. Bei den folgenden Überschlägen seien die Insassen dann getötet worden. Und niemand hätte je erfahren, daß einer tödlich verunglückten Besatzung in Irland 1943 nur 2 Sekunden Steigzeit der Maschine fehlten, um zu überleben. Seitdem lässt mich die Frage nicht mehr los, wer oder was, wann auch immer steuert oder verhindert, wer bei welchem Unfall umkommt oder nicht.

Beispiel: wie war es kürzlich möglich, dass sich weit auf dem Atlantik in dreidimensionalem Raum zwei einsame Flugzeuge in der Luft treffen oder einige Jahre später das Gleiche ebenso über dem Bodensee passiert?

Ein Sechser im Lotto mit nur einem einzigen Tippschein wäre wohl wahrscheinlicher. Eine eindeutige Antwort auf meine Frage wird es wohl niemals geben.

Rolf Hölterhoff

Dezember 1997
(überarbeitet: 23.07.2020)

Nachtrag:

Herr Michael Voigt, Bahlweg 46, 49086 Osnabrück rief mich am Montag, 10.12.2007 an.

Michael Voigt ist ein Groß-Neffe von Hans Auschner!

Bei Nachforschungen nach seinem Großonkel Hans Auschner stieß er über eine Website eines Luftwaffen-Forums zur Zeitschrift Jet & Prop. Er fand dort meinen Artikel und rief mich dann an, nachdem er meine Telefonnummer im bundesweiten Telefonverzeichnis fand!

Es ist für mich eine Sensation und wahrscheinlich letzter Erfolg, nach so langer Zeit nun doch noch Kontakt zu einem Verwandten eines Besatzungsmitglieds zu bekommen. Ich schickte Herrn Voigt nicht nur die Wrackteile der JU 88, sondern auch noch Kopien meiner wichtigsten Recherche-Unterlagen.

Wir bleiben in Kontakt.